01 Mrz

Variationen des Gleichen (Eines Frühlingsmorgen)

Für die, die ich geliebt habe und all jene, die ich nicht Lieben konnte.

Damals, als die Zukunft noch Vergangenheit und alles wie immer war, war die Zeit frei. Sie lebte draussen. Niemand hatte sie je wahrgenommen, manchmal aber, lief sie gerade, bald im Zickzack und zuweilen flog sie davon. Als ein findiger Jemand auf die Idee kam, sie in die Uhr zu sperren, Seither ist der Moment zumeist nur noch ein verschwindender Augenblick, ohne je eigene Dauer.

Du wendest dich ab noch bevor ich dich beschreiben konnte. Entziehst dich dem Blick meines Schreibgeräts, die Worte, meine Worte prallen an dir ab, weil nichts unter der Oberfläche liegt, was du zeigst. Alles, was ich also tun kann, ist dich zu imaginieren. Und indem ich dich imaginiere, erschafft und behauptet sich mein Ich als impliziter Erzähler dieses Texts. Jetzt, wo ich mich frage, wie ich dich entwerfen soll, sehe ich mich verwiesen auf mich selbst. Und bin gezwungen: zu Verwerfen.

Das Alte – das Neue? Im Fluss der Zeit – wir fliessen dahin und werden geflossen, schwemmen, treiben dahin. Wohin? Ein rettender Anker, eine Stege, eine Schnelle, – was und wo sind die Ufer im Fluss der Zeit? Wo sind die eigenen und gemeinsamen Möglichkeiten? Freiheiten? Wer sind wir? Ich, Du, ein Wir? Was bleibt, war, ist und wird? Was wird getan – werde ich getan?

Abstrakt, konkret – konkret, abstrakt – wir tun, was uns tut oder wir werden getan. Können wir Schwimmen oder müssen wir aussteigen, brauchen wir das Wasser, die Quelle und wo bleibt, die rettende Treppe? Und wo die wärmende Sonne, die sich gebettet in Wolken seit Wochen nicht mehr gezeigt hat?

Nichts wurde wie es morgen war und gestern gewesen sein wird, wo die Möglichkeiten verharren im Angesicht der Zeit, Möglichkeiten kommen zu, verweilen und drehen sich langsam ab, bleiben, wo sie waren und platzen wie der Schaum von Champagner – zunächst edel, dann schmecken sie schal und trocken.

Wir atmen und gehen, jeder für sich am Morgen, Mittag und abends liege ich wach – alleine. Wo ist die Karte, wo bleibt der Kompass? Die Wege, die wir gehen, gibt es noch nicht, sind noch nicht beschritten worden. Vielleicht gehen wir auf Äckern. Bald hinterlassen wir Spuren, setzen Marken, Wegmarken, an die wir uns erinnern und vergessen, wo sie bleiben. Sie sind und sind unentdeckt. Verdeckt und immer schon vergessen. Wir sehen uns um, sehen Spuren, sehen uns – Ahnung von anderen Wegen, die, sobald wir ihnen folgen, verschwinden im Dickicht der Zeit. Wohin sie wohl führen mögen?

Wir können wollen und wollen können aber können nicht können. Hüben wie drüben vom Fluss der Zeit. Ufer. Wirre, verwirrte, nächtliche Gedanken: Worte, Halbsätze – dunkel und unverständlich – manchmal ein Wort, ein Fragment eines Satzes und dann ein Bild – unbekanntes, ungeschriebenes, in keiner Sprache gesagtes.

Ein letzter Augenschein
bald vergangener Zeit

Noch ist’s nicht.
Nicht vorüber
Und doch schiebt und
Drängt die Vergangenheit
Uns nach vorn
Und das Gewesene
Weit von uns Weg.

Ein Erster Augenschein noch
Nicht gekommener Zeit

Noch scheint sie nicht
Die Sonne von morgen
Und doch kommt sie
Daher gerannt – die Zukunft,
die so gleich und doch ganz anders
scheint.

Noch ist’s jetzt
Und bald Erinnerung
Und Dankbarkeit
Für die grosse Zeit

Es ist Nacht. Ich bin eingeschlafen.

Jetzt, wo es weder Zukunft noch Vergangenheit gibt und nichts ist, wie es immer war, ist die Zeit nichts. Sie bleibt, was sie war, damit alles wird, wie es nie gewesen sein wird. Draussen und Drinnen. Ich nehme sie nicht war, obwohl die Uhren ticken. Der Moment – eine Ewigkeit, eine berstende Ewigkeit von verschwindend kurzer Dauer.

Der Morgen – der Morgen danach. Wonach? Augen blinzeln dem Licht entgegen und vernehmen Farben. Zum ersten Mal seit langem erscheint die für Weiss gewusste Zimmerdecke in Pastelltönen. Blau und Rosa wechseln sich ab – die goldene Frühjahrssonne fällt ins Zimmer. Blinzeln – Augenblicke am Morgen danach, nach dem Erwachen, aufwachen nach einer unendlich langen und kalten Winternacht. Finster und kalt war es draussen und drinnen, wobei unklar ist, ob das düstere kontrastlose Grau von Innen oder Aussen kam. Die Antwort vielleicht; am Morgen danach spielt alles keine Rolle mehr – denn jetzt scheint sie, die Sonne, hell am Morgen. Am morgen danach, wenn die Welt zum Leben und man selbst zu Neuem erwacht. Wenn anderntags, das Gefühl im Bauch sich ausbreitet –ich bin – ich bin, der ich bin. Und die Antworten auf die beiden Fragen, wer ich und wer ich ist, einerlei wird.

Die Welt liegt vor der Zimmertür und alles, was ich tun muss, ist diese Tür zu öffnen und die Welt betreten. Ich als Teil von ihr – am Morgen – am Morgen danach, am Morgen nach der kältesten und längsten Winternacht. Jetzt: Wir sind – wir, die Welt und ich.

Ich suche den Ort, wo die Möwen wohnen –
Wo die ewig obdachlosen
frei geborenen umherziehen.

Ich suche das Leben, das die Möwen leben –
Wie die ewig obdachlosen
frei geboren umherziehen.

Jetzt, wo die Sekunden wie Stunden und die Stunden ohne Sekunden sind. Warten auf und erwarten von. Ich bin und bin nicht im Moment der Suche man selbst. Die Uhren ticken. Und alles bleibt, weil nichts war, wie es gewesen sein wird.

Eine Anleitung an mich selbst: 1. Menschen wahrnehmen, 2. Ziele verfolgen, 3. Pläne schmieden, 4. Zufälle feiern, 5. Widersprüche aushalten, 6. in Musik aufgehen, 7. um Worte ringen, 8. Sinnliches geniessen, 9. steinige Wege gehen, 10. Neues versuchen, 11. dankbar bleiben, 12. rastlos werden, 13. finden statt suchen! Und endlich: das Leben leben.

Und vielleicht auch noch: Schreiben, um Gedanken vorüber ziehen zu lassen. Festhaltendes loslassen. Sehen zum hören. Nach Sätzen suchend lasse ich die Gedanken schweifen. Beschreibe mich in der Welt und erfrage den Klang ihren Klang. Höre das Erzählen in mir –draussen auf dem Papier.

Ich fliege – aber bin ich eine Möwe?
Habe ich es gefunden
Das Leben, das sie führen?

Jetzt, ich spüre sie – die Zeit. Langsam vergehen kurze Zeitspannen während die Jahre rasen. Und  jetzt gibt es  nur eins. Es ist morgen und wir sind eins. Wir, die Welt und ich.

06 Feb

Zugelassen

Karena Weduwen

Zugelassen

Laissez faire“ raunte es mir zu und schaute dabei ziemlich allwissend. Das verärgerte mich so sehr, dass ich meine Nase rümpfte und meine Stirn anhob, sich in Falten zu legen. „Ist es denn nicht etwas zu gelassen, diese vielversprechende Tür zuzulassen?“ erschrak meine Vorsicht. Derweil hatte eine der stets wachsamen Visionärinnen mit großen Buchstaben auf ein Banner gebracht: „Eines Tages wirst Du mit dem Kopf durch die Wand müssen, wenn Du nicht hier und jetzt eintrittst“. Mit dem Gestus einer leidenschaftlichen Idealistin, die sie war, schwenkte sie ihr Banner und wenn man sie so betrachtete, fiel das „Närrin“ in „Visionärin“ ins Gewicht. Ihr ungeheuerlicher Stolz darauf, den strahlensten unter den Wissensklängen zu singen, erstickte ihre anklingende Lächerlichkeit wie immer im Keim. Während sich mein Verstand noch über das grammatikalische Sosein des Gehörten bekümmerte – „3. Person und Infinitiv, nein!, ja?“ – fand es, das Leben nämlich, eine aufmerksameren Zuhörer in meiner Magengegend. Dort betrachtete etwas das Vernommene mit staunender Neugierde, nahm die eifrige Fußnote über Peter Gross‘ Begriffsprägung der Multioptionsgesellschaft nur von Ferne wahr und klinkte sich mit schweizerdeutscher Onomatopoesie in den Redekreis ein: „Aha! Ist es etwa gar nicht so verschieden – zulassen und zulassen?“. Mit einem zufriedenen Schmunzeln besänftigte es das Gerede und freute sich schon ein wenig auf die nächste Böe.

16 Okt

Zwar ein Sommertag, 2013

Wo gehen sie alle hin, die Leute auf den Strassen, in den Autos? Über diese Frage dachte er nach, während er am Strassenrand sass darauf wartend endlich fort zu kommen. Diesen Gedanken folgte er so, wie mit den Augen den Leuten, den Autos, den Fahrrädern. Er sah ihnen nach bis er sie nicht mehr sehen konnte, bis nur noch die Vorstellung davon blieb, wohin sie auch gehen mochten, obschon der Ort an dem er sass, überhaupt nicht einladend war, und kaum Gedanken zu liess. Stickig war es nämlich und heiss. Aber gerade deshalb wollte er träumen, träumen und an anderen Orten sein, wo er noch nicht war. Er war schon viel in der Welt unterwegs und dennoch konnte er sich nicht so recht vorstellen, wie es wäre den Ort, wo er sitzt, gleichwohl er davon träumte, zu verlassen. Und so blieb er vorerst am Strassenrand sitzen darauf wartend fortzukommen – vielleicht wartete er darauf, dass ihn jemand abholen würde oder wenigstens, dass etwas passierte, was den immergleichen Alltag verändern würde.