Die verborgene Übersetzung der DNA
Die verborgene Übersetzung der DNA
von Tim Gallusser
vorgetragen auf dem LitUp! »Translatieren? – Translatieren!«, 12.06.2015
„Das Ablesen von DNA nennt man Translation“, sagt jemand auf einer Website zur Problemklärung in der Deutschen Sprache. Das Verb davon ist daher vom Lateinischen translatum, einer Partizipbildung, abgeleitet.
Als ich mir überlegte, was »Translatieren« bedeuten kann, kam mir dies zwar nicht in den Sinn, dafür aber eine Geschichte.
„primus ab aethero venit Saturnus Olympo
arma Iovis fugiens et regnis exsul ademptis.
Is genus indocile legesque dedit, Latiumque vocari
maluit, his quoniam latiusset tutus in oris.“
Euander erzählt, wie Saturn von Iuppiter verfolgt, an die Küste Latiums kommt und sich dort vor seinen Häschern verbirgt. Diese Geschichte wird uns als Leser der Aeneis und dem Begleiter des Euanders, Aeneas, nicht bloss aus Unterhaltung päsentiert, sondern sie will uns erzählt werden, damit wir das Wort Latium bestimmen können. Nicht nur ist es für Aeneas die neue Heimat und soll als diese aufgeladen werden, der Landstrich ist auch für den zeitgenössischen Leser und uns mythisch bestimmt. Das Wort Latium lässt sich verbinden mit dem lateinischen Verb latere. Und wie sich Saturn in diesem damals noch namen- und bedeutungslosen Landstrich verbarg, so wird es uns und dem Helden dieses Epos über den Namen und der Bedeutung dieser Küste klargemacht: Weil das Verb latere das Konzept des Verbergens abruft, es sich lautlich im Wort Latium wiederfindet, deutet es auf die Ruhestätte des Saturns hin, aber auch den Ort, wo dessen Bewohner die längst verlorenen aurea saecula verlebten, bevor sie in den Strudel der düsteren Zukunft versanken. Latium ist von den Göttern gehegt und gepflegt worden, noch bevor das Volk der Troianer ihren Fuss darauf setzten, noch bevor Aeneas der Gründer Roms werden konnte. Doch alle diese Bezüge müssen gezeigt, alle Fäden zusammengeknüpft und erzählt werden, zu uns hinübergetragen werden, damit wir verstehen.
Irgendwie scheint es mir, dass das Translatium mehr ist, als das Überlegen eines Wortes einer Sprache in die einer anderen. Es scheint, als wären dahinter mehr Fäden mitgetragen, die auch hinübergetragen werden können, oder nicht, die vielleicht aber auch neu verbunden werden können, je nach Umgebung, in die sie hineingewebt werden, die sich auch nur teilweise berühren müssen, um neue Gewebe zu ergeben.
Μῆνιν ἄειδε θεὰ πηληϊάδεω ἀχιλῆος
Ist der erste Vers der Ilias, die die Vernichtung Troias besingt, die Wirkung des Streits grosser Göttinnen beschreibt und Menschlichkeit in edler Form beschwört.
“Vom Zorn singe, Göttin, des Pelaiden Achilleus”
Der erste Vers der Odyssee lautet dagegen aber, die die Heimfahrt des Helden Odysseus, dem Herr über Ithaka erzählt, der vieles erleiden musste, nachdem er Troia zerstörte:
Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰπλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε
Μῆνιν und Ἄνδρα sind die Themen dieser beiden Epen. Diese beiden Begriffe sind die Repräsentanten ganzer Narrative, die die beiden Epen durchziehen. Letzteres steht für das Narrativ des Heimkehrens, der Suche eines Platzes nach dem Krieg im Alltag, dem Heimkehren aus dem Mythischen ins Logische und in dem Versuch der Konstruktion einer Heimat in Frieden, der Selbstvergewisserung der männlich dominierten Macht. Ersteres zeigt den Zusammenhalt der Archaier, den Auszug gen Troia und dessen Vernichtung und die Repräsentation adliger Macht im Krieg.
„Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Lavinaque venit
litora“
„Von Waffen und vom Mann singe ich, der durch einen Schicksalsspruch als erster Flüchtling von der Küste Troias nach Italien und an die Küste Laviniums kam.“, übersetze ich und reihe mich als dritter ein. Vergil transferiert die beiden Musenanrufe der Ilias und der Odyssee und setzt sie hinüber in sein Werk, während er sie verknüpft. Aus Μῆνιν wird Arma, aus Ἄνδρα wird virum.
Nicht nur übersetzt Vergil die homerischen Verse ins Lateinische, er erweitert sie und seine. Sie sind in Bezug gestellt zu den Grossen Epen und den Narrativen, die sich in der Aeneis wieder zeigen. Es wird zwar mit der Struktur variert, etwas neues geschaffen, aber durch das Übertragen nur dieser beiden Wörter zu Beginn wird der Rahmen des Werkes über Sprach- und Kulturgrenzen geöffnet und schliesslich auch die Grenzen des Werkes an sich.
Wie Vergil durch translatieren Bezug nimmt auf Homer, nehme ich Bezug auf diese, stelle sie in einen neuen Zusammenhang, verknüpfe als Rezipient die Fäden neu, da ich nicht wissen kann, wie die Fäden, die Anteil an einem Wort in diesen Werken haben, damals gemeint worden sind. Genau so wenig, wie ich den Hexameter, als beudeutungstragende Funktion lesen kann, noch in die deutsche Sprache übertragen kann.
Vielleicht bin ich als transferens der, der die sich immer bewegenden, beinflussenden und relativ bestimmenden Fäden verwebt. Vielleicht schaffe ich in der Welt, die sich verloren hat, in den Fäden wieder Sinn.