Diese totale innere Fülle
Diese totale innere Fülle
Samuel Eberenz
Wieso ich, wieso ich sitze und harre, zwischenzeitlich unberechtigt hasse, ins graugrüne Stocken starre. Leitplanken, Leitgedanken, überhaupt: Gedanken. Wir sind im Auto und die andern sind draussen. Sie nehmen uns nicht wahr. Wir rasen auf der Erde, so schnell, entlang eines Teerwüstenstreifens. Der Fahrer schaltet eine Gang hoch und ich höre die Maschine des Wagens dröhnen. Sitzfleischlich in die Enge getrieben hilft nur Nachdenken, Ablenken!
Ich nehme das Buch mit den Gedichten hervor, das du mir hinterlassen hast. Doch was da erklingt, es bleibt Vages und die Räder am Wagen drehen sich. Ich verstehe nicht, der Text vergeht formvoll, vergilbt ortlos, eine stumme Sprache sprechend. Eine elliptische Echolalie erkaltet in den Niederungen.
Das zweite Buch …: da sitzt mir Markus Werner gegenüber. Wie er aussieht, weiss ich nicht. Er ist Schweizer und schreibt. Er ist Schreiber und redet viel über Frauen und isst Himbeeren. Es tropft ihm nur so rot um den Mund. Seine Charaktere sind gut, doch mein Kopf nimmt das Gebotene nicht an. Im Bauch geschnürt-konserviertes Beisammensein. Halbverdautes, einerlei.
Radionachrichten, Radiomeldungen. Es ist immer genau Uhr, nur später. Immer Fachkräftemangel, Flüchtlingsboote, immer Streik, Krise, immer Krieg, nur heute als lokales Extra ein entlaufener Kannibale. Dann kommt wieder Schubidu. Schubidu statt Schubert, das liegt am Sender. NDR2.
Mein Mitfahrer schimpft auf die Deutsche Bahn. Sitzt im Stau und schimpft über zehnminütige Verspätungen, sagt: „Uns konnte es ja egal sein, weil wir kamen mit dem Flugzeug.“
Alle schimpfen sie auf die Deutsche Bahn. Warum gibt es keine Deutsche Bahn Fans? Endlich stottern wir in den Elbtunnel, meine Gedanken stolpern hinterher. Der einzige Grund, wieso ich heute mitfahre ist Masochismus… und Sparen, Anonymität, Leichtsinn, Hirnrauschen. Orangenes Flackern. Vielleicht bin ich ja doch noch jung, jung genug, so etwas zu tun, ein um das andre Mal. Ich fühle mich als greises Kleinkind, als verbrannter Vogel im vereisten Käfig.
Ich plappere pausenlose Kleinigkeiten. Nur in meinem Kopf, versteht sich, meine Mitfahrer sind nett, tragen Kragen und segeln, jung geblieben und meermündig, doch keiner Eltern Kinder mehr. Was will man machen? Nächstes Jahr Griechenland oder Kabri. Dort wollen sie sich goldgelb braten lassen, Oliven essen und Wein trinken. Die Sonnenbrille liegt wunderschön, auf gestiefeltem Haar. Perlohringe und ich plaudern belanglos, haltlos, hilflos ausgeliefert. Ich stelle mir vor: Ihre Haut pellt sich rot von den Schultern. Ihr Kleid ist gross und weiss. Vielleicht ist sie schwanger? Wese an, wese aus, wag es, vages. Meine Füsse sind heiss. Die Schenkel rastlos. Zitternd krame ich nach dem Mineralwasser in der Tasche. Wieso ich mich nicht entspannen kann? Das müsstest du am besten wissen. Du hast meine Ruhe verdrängt, Stück für Stück. Ohne könnte ich meine Gedanken schweifen lassen ohne zu fürchten, zu flüchten. Ohne Sackgasse, ohne Magenschmerzen, ohne dich am Hafen baden gehen.
„… bis sie blutet.“ – der Fahrer hat etwas gesagt, und die andern wenden sich ihm zu und lachen. Ich habe nicht aufgepasst. Das wäre vielleicht ein guter Anknüpfungspunkt für ein Gespräch gewesen. Seine Stimme kam mir eben sehr vertraut vor, dieses pure Böse. Schade. Normalerweise bin ich ein aufmerksamerer Zuhörer, gehe gerne zu Lesungen,
immer wieder zum selben Autoren. Oft ist es ein Klappentext oder eine Rezension, die ihn mir schmackhaft macht. Dann kann ich nicht mehr davon lassen. Jede Lesung ist wieder neu, wieder anders. Und doch sitzt vorne ein Stück Mensch, reproduziert sich selbst mit Hilfe seiner Zunge, seiner Kaumuskeln, meist gelangweilt routiniert, immer anders. Wese an, wese aus.
Endlich: Beschleunigung zwischen schlafenden Kränen, blauroten Ablenkungsmonstern, Strommasten, Containern. Hier löst sich der Stau im Platzregen auf, es bleiben albern überreizte Nerven, und weiterhin Fachkräftemangel, keine Spur – und dazwischen tut Perlohring kund, dass sie keine Hülle für ihre Sonnenbrille dabei hat. Ich versuche, mir Notizen zu machen, irgendwas. Der Fahrer untersagt mir, mit dem Kugelschreiber zu klacken. Aber er darf ständig blinken, ticktack, ticktack, nur ein kleiner Tick… Ich reisse mich zusammen.
Und irgendwann dreht die Welt wieder normal, und wir rasen nicht mehr über die Welt und ich komme zur Tür herein, dort wo ich hin will und die andern lachen. Dann muss ich mitlachen, trinken und plappern… müsste ich, führe ich nicht zu denen, die zuhören, beziehungsweise mich schweigen lassen, und mir was vom Grill warm halten. Ich werde mich treiben lassen, loslassen, essen, trinken, lachen, und hoffentlich auch was zu erzählen haben. Und ob du es spürst oder nicht: Ein Teil von dir wird in mir mitmachen. Wirst du auch nie – doch hörbar werden, vielleicht.
Ich werde ihnen sagen, du seist honigsüss. Wie Messewein. Wie Götterblut.
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✁ Achtung, Achtung: Dieser Text enthält Plagiate aus Delirium N°3