11 Mrz

Cadarbre Exquis. Oder: die LitApp

Herr, ein Spatz irrt! LitApp-Startbildschirm – in Entwicklung befindlich

CADARBRE [von franz. Cadavre (Leichnam) + Arbre (Baum)] ist eine digitale Weiterentwicklung des surrealistischen Schreib- und Zeichenspiels Cadavre Exquis, auch bekannt als “das Knickspiel”:

«CADAVRE EXQUIS – Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat, bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau.» (André Breton, Paul Éluard: Dictionnaire abrégé du surréalisme. Éditions José Corti, Paris 1938)

Die LitApp ist ein Browser-basiertes Programm, in dem nach dem Vorbild von Cadavre Exquis ein Text (das CADARBRE) durch eine oder mehrere Personen fortgeschrieben wird. Dabei werden den Schreibenden vom vorhergehenden Text jeweils nur die letzten Worte oder Sätze angezeigt, so dass sie angehalten sind, assoziativ und spontan auf den angezeigten Text zu reagieren. Im Gegensatz zum papierbasierten Original erfolgt die Textgenese jedoch nicht linear sondern in einer zufälligen, sich verzweigenden Abfolge. So entsteht nicht nur ein Textstrang sondern ein ganzer, sich verzweigtender Textbaum:  Immer wenn eine Eingabe gespeichert wird, wird einer der bisher gespeicherten Sätze angezeigt. Die Nutzerin schreibt die Fortsetzung des angezeigten Satzes.

Wird ein Satz mehr als einmal angezeigt, erhält ein Satz mehr als eine Fortsetzung und der Text beginnt sich an dieser Stelle zu verzweigen.

Jeder Weg durch den Baum ist ein Text.

«Das Problem des CADARBRE ist nun folgendes: Auf einen Satz folgt ein nächster (auch Schweigen wird als Satz charakterisiert); verkettet wird ein Satz mit dem nächsten nach Satz-Regelsystemen, die innerhalb eines Diskursgenres gelten. Man könnte aber auch eine ganz andere Fortsetzung finden, egal welche, die dann einer anderen Diskursart angehören würde. Mann muss verketten, aber nicht in einer bestimmten Weise. Indem man verkettet, verhält man sich immer ungerecht gegenüber den möglichen Verkettungen, die nicht gewählt werden. Dies ist der Kern eines CADARBREs im Unterschied zu einer Monografie, die innerhalb eines Diskursgenres stattfindet und nach dessen Regeln geschrieben werden kann. Eine Monografie ist prinzipiell vollendbar, ein CADARBRE nicht. Jeder angeblich abgeschlossene Text wäre auch nur ein Text neben Anderen. In und nach welchem Diskurs sollte sich entscheiden lassen, dass einer dem anderen überzuordnen ist?» (frei nach Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung. Seite 64).

Stefan und ich, zu zweit im Zug durch das Schweizer Mittelland. Zwischen und kreist ein Laptop, darauf die LitApp. So entsteht ein unterwegses CADARBRE:

Wir fahren im Zug und fahren dahin. | Dahin, gerafft, wie man es lesen will, so lesen wir die Landschaft, der der Sichtbeton mehr eingeschrieben hat in 60 Jahren als Millionen geologischer Überschiebung und Sedimentation und was für Prozesse es da noch so gegeben hat, die jetzt nur noch die Freizeithügel. Wir fahren in die falsche Himmelsrichtung.
Idioten. | Idioten aber, Idioten sind immer die anderen, dachte er, während er und er, also sie beide, durch die Landschaft fuhren. Aber die falsche Himmelsrichtigung bleibt die falsche Himmelsrichtung, selbst wenn der eigentliche Lauf der Dinge, die Ordnung des Seins, keine Fehler kennt. Sie ist, wie sie ist. | Die Zuganzeige ist nicht mit der Ordnung des Seins gleichzusetzen; Minuten später die Anzeige «Winkel am See», wo Stadelhofen hätte stehen sollen, die Augenpanik gross, im Tunnelblick. Soviel also zu den Fehlern, dieses Fazit formuliert er lachend: | Oh mein Gott! Hier rägnäts waisch wie fäscht! Bei dir au? | Hach, antwortete das Gegenüber. Ohne eine Miene zu verziehen und ohne ein Wort zu sagen. Sie schwieg, wie man durch das Telefon hindurch hören kann. |

Wir fahren im Zug und fahren dahin. | Dahin, gerafft, wie man es lesen will, so lesen wir die Landschaft, der der Sichtbeton mehr eingeschrieben hat in 60 Jahren als Millionen geologischer Überschiebung und Sedimentation und was für Prozesse es da noch so gegeben hat, die jetzt nur noch die Freizeithügel. Wir fahren in die falsche Himmelsrichtung.
Idioten. | Der Regen. Derweil patscht er gegen die Fensterscheiben. Auf jener rechts von uns steht in Spiegelschrift »GEITSNIETON« und von Innen »Notausstieg. Hier einschlagen«. Ist das eine Aufforderung zu Gewalt im öffentlichen Raum? | Wie im Traum starre ich auf die kleine Wasserschlange die sich windend immer neue Wege übers Glas sucht, nur kleine Tröpfchen hinterlässt sie, wo sie war, aber auch wo sie nicht war, sind die Tröpfchen, dafür kleiner und mehr. Stimmt das? Sind sie nicht genauso gross und lediglich stochastischer auf der Scheibe verteilt, die spurlosen? Ich schlucke trocken. |

Ein CADARBRE „ist keine Schreibart, sondern deren Vielfalt, die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten und insbesondere die Frage nach der Verkettung“. Sie ist in gewisser Weise die „Drohung des Ausfransens“ (frei nach Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung. Seite 71)

Wir fahren im Zug und fahren dahin. | Dahin, gerafft, wie man es lesen will, so lesen wir die Landschaft, der der Sichtbeton mehr eingeschrieben hat in 60 Jahren als Millionen geologischer Überschiebung und Sedimentation und was für Prozesse es da noch so gegeben hat, die jetzt nur noch die Freizeithügel. Wir fahren in die falsche Himmelsrichtung.
Idioten. | Der Regen. Derweil patscht er gegen die Fensterscheiben. Auf jener rechts von uns steht in Spiegelschrift »GEITSNIETON« und von Innen »Notausstieg. Hier einschlagen«. Ist das eine Aufforderung zu Gewalt im öffentlichen Raum? | Langsam stehe ich auf und drehe mein Gesicht in Richtung der Mitreisenden. Sekundenlang mustere ich die Gesichter und suche nach Anhaltspunkten für eine Provokation. Sollte ich keine finden, muss ich losschlagen. |

Wir fahren im Zug und fahren dahin. | Dahin, gerafft, wie man es lesen will, so lesen wir die Landschaft, der der Sichtbeton mehr eingeschrieben hat in 60 Jahren als Millionen geologischer Überschiebung und Sedimentation und was für Prozesse es da noch so gegeben hat, die jetzt nur noch die Freizeithügel. Wir fahren in die falsche Himmelsrichtung.
Idioten. | Gerafft. Aber auch geschafft. Landschaften drängen sich uns auf. Nicht wie Bücher, deren Sinn sich immer entzieht. Geraffte Zeit. Geraffte Welt. Gerafftes Nichts. Und immerfort wir fahren zurück. |

Der LitApp geht es darum, die Geschichte im Unentschiedenen zu halten. Reflexives Denken kann diese Unentschiedenheit nicht auflösen. Es kann diese nur in Worte fassen.  (frei nach Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung. Seite 70)