Kuhai & Fi Bo Na Chi
Neue japanoeuropäische Traditionsgedichte des Unverständnisses
Die Ausgangslage
Künste und Künstlerinnen aus Japan und Europa stehen im ständigen Austausch von Faszination, Inspiration, Nachahmung und Missverständnis. Kuhai und Fi Bo Na Chi, die jüngsten Spielarten japanoeuropäischer Poesie gehen auf das Haiku zurück. Viele EuropäerInnen müssen mindestens einmal in ihrem langen Leben ein Haiku verfassen: in der Primarschule. Dieses Schulhaiku hinterlässt nicht nur intensive Gefühle von Faszination und Verwirrung, auch prägt es, meist Minuten nach dem Schreiben schon wieder vergessen, doch schicksalhaft das gesamte weitere Leben der Kinder, insbesondere ihre kreative und charakterliche Entwicklung. Die traditionelle Form des Haiku wird durch die Anzahl von sogenannten Moren, quantisierenden Einheiten, bestimmt (5-7-5). In den westlichen Kontext werden diese Moren meist als Silben übertragen. Beim europäischen Primarschulhaiku steht also in erster Linie das Silbenzählen im Vordergrund. Das ungeheure schöpferische Potential, dass sich hinter der Silbenzählerei verbirgt, kann sich jedoch durch die grossen kulturellen Unterschiede im Haiku nicht voll entfalten. Die neotraditionellen Gedichtformen Kuhai und Fi Bo Na Chi schaffen dem durch geniale mathematische Raffinesse und gnadenlose westliche Hegemonie Abhilfe. Die Resultate sind schillernde Blütenfelder japanoeuropäischer Literatur.
Das Kuhai
Das Kuhai stellt eine Permutation des Haikus dar. Die vertauschten Silbenzahlen pro Zeile (7-5-7) substituieren das für WestlerInnen völlig unzugängliche und dickbäuchig zentrierte Konzept von Kiru, Kireji und Kiru durch ein klar strukturiertes Sandwich, wobei die beiden Toastscheiben (7) eine kleinere aber unverzichtbare Bullette (5) umschliessen. Die bekannteste neotraditionelle Form ist das Kuhai juridique:
Den Tatbestand aufzeigen
Unfair urteilen
Selbstvergessen abschweifen
Die kulturelle Basis von Kuhai und Fi Bo Na Chi wird im folgenden englischsprachigen Kuhai juridique mit dem Titel Why Kuhai angedeutet:
Tom Cruise: The Last Samurai
Wonderful story!
A great reason for sushi
Die grundlegende ästhetische Qualität des Haiku ist es, unabhängig vom Kontext selbstgenügsam zu sein. So wird ein gutes Haiku als eigenständiges, komplettes Werk wahrgenommen. Das Herdengedicht Kuhai hingegen zeichnet sich durch vollständige Kontextabhängigkeit aus. Ein Beispiel ist die »Why-Herde«, eine Reihung von Kuhai juridique, bei denen das Abschweifen (letzte Zeile) als Ausgangspunkt für den Tatbestand (erste Zeile) des vorherigen Kuhai dient:
Tom Cruise: The Last Samurai
Wonderful story!
A great reason for sushi
Fischsterben im Ozean
Aber mein Sushi?
Heute ist mein freier Tag
Wirtschaft wächst nich mehr wie früh’r
Faules, faules Pack!
Marathon am See entlang
Kaffee am See zu teuer
Dabei gibt’s so viel!
Vielleicht wär’s Zeit für Hammam
Im Hammam liegt so viel Haut
Schrubbsüchtiges Pack!
Ich möchte mich gern prügeln
Das Fi Bo Na Chi
Im Fi Bo Na Chi folgt die Silbenzahl pro Zeile der Fibonacci-Folge. Dies ist eine unendliche Folge von natürlichen Zahlen, die mit 0, 1 und 2 beginnt. Im Anschluss ergibt jeweils die Summe zweier aufeinanderfolgender Zahlen die unmittelbar danach folgende Zahl: 0-1-2-3-5-8-13-21-34-55-89-144… Die Fibonacci-Folge ist mit vielen ästhetischen Habitatansprüchen überfrachtet, beim Fi Bo Na Chi geht es vor allem um die Suche nach dem Nirvana (ein goldener Schnitt irgendwo zwischen Japan und Pisa), den schleichenden Übergang einsilbiger Poesie zu überbordender Prosa und somit letztlich die Suche nach der letztgültigen Erzählung. Unter den MeisterInnen des Fi Bo Na Chi herrscht ein immerwährender Wettstreit, wer das längste Fi Bo Na Chi verfassen kann, ohne sich einmal zu verzählen. Der derzeitige Rekord liegt bei der maximalen Zahl von 144 Silben pro Zeile. Das sollte doch zu schlagen sein!
Einsendungen von Kuhais und Fi Bo Na Chi sind immer willkommen. Für den ersten historischen Sammelband! Einfach per Mail an welcome [ät] litup [punkt] ch
Relation: Turning a Kuhai into a Fi Bo Na Chi
Kuhai:
Im Hammam liegt so viel Haut
Schrubbsüchtiges Pack!
Ich möchte mich gern prügeln
Fi Bo Na Chi:
Im
Hammam
liegt so viel
Haut schrubbsüchtiges
Pack! Ich möchte mich gern prügeln
Mehr Fi Bo Na Chi und eine Druckvorlage für Faule zum selberschreiben ohne Silbenzählen gibt es hier: