Zurück in die Zukunft: Angewandte Science Fiction zur Alltagsbewältigung (Frau Q.)
« Frau Q., was haben Sie sich überlegt, um unsere Marktführung auszubauen? »
Für das bessere Verständnis der Leser_innen soll hier kurz ausgeführt werden, wofür Frau Q. in ihrer Firma zuständig ist. Sie kennen vielleicht das Problem, wenn es in den Sommermonaten stechend heiß wird: Der Sonnenball glüht am Firmament und jede kleine, verzweifelte Pore ihres Körpers versucht durch Schweißabsonderung etwas Abkühlung herbeizuführen. In Frau Q.’s Firma wurde ein transparenter, leichtgewichtiger Kühlakku für den Oberkörper entwickelt, der diesem lästigen Problem endlich Abhilfe schafft. Böse Zungen, die Konkurrenz!, behaupten in Frau Q.’s Firma würden „Probleme“ überhaupt erst erschaffen, um anschließend den Konsument_innen eine Pseudolösung zu verkaufen. Wie sich diese naiven Menschen bloss durch den Alltag navigieren! Frau Q. hatte monatelang wie besessen Entwürfe in ihr Notizbuch gekritzelt, ihre Ideen an die hyperaktiven, gierigen Algorithmentierchen in ihren meterhohen, vergitterten Gehegen verfüttert, die nach einem langwierigen, übel riechenden Verdauungsprozess, schöne neue aussagekräftige Muster in ihren Verrichtungsschälchen hinterließen. Ihre Fingerkuppen fühlten sich taub an vom besinnungslosen Hämmern der Tasten. Frau Q. hatte die Idee für einen Glücks-Chip – ein Glücks-Implantat sozusagen – entwickelt, der den Menschen sobald sie das Licht der Erde erblicken, eingesetzt werden kann. Lange Zeit hatte sie sich gefragt, warum sie anders war als die anderen, was fehlte ihr, was die Menschen, denen sie jeden Tag auf der Strasse begegnete, besaßen? Nach und nach dämmerte ihr: Es war genau anders herum: Nicht ihr fehlte etwas, sondern den Anderen! Kurz bevor sie mit ihren Entwürfen begann, war ihr ein ausländisches Pärchen in einem öffentlichen Verkehrsmittel begegnet.
« Warum sehen hier alle Menschen so unglücklich aus? » Frau Q. blickte in die müden, selbstvergessenen Gesichter, betrachtete die hängenden Lider, abfallenden Mundwinkel, beobachtete die einsamen Hände, die sich an ihre Smartphones hefteten. Plötzlich verspürte sie die Notwendigkeit den ausländischen Besuchern das Verhalten der Einwohner von Z. zu erklären: Es ist Freitagabend, die Menschen arbeiten die ganze Woche und sind am Freitagabend erschöpft. Woraufhin das Pärchen erwiderte: « Sind Sie etwa nicht müde? Aber Sie sehen glücklich aus. » Dank des Glücks-Chips würden diese verschwendeten Feierabende bald der Vergangenheit angehören. Anstatt sich der Wehmut hinzugeben, würden die Menschen den süßen, angenehmen Duft von Sommerblumen einatmen, anstatt in stumpfen Pessimismus zu verfallen, würde sie das Bewusstsein der eigenen Lebendigkeit zu Freudensprüngen veranlassen, anstatt alleine über ihren Schreibtisch gekrümmt über die Unzulänglichkeit des Mensch-Seins nachzudenken, würden sie sinnhafte Verknüpfungen in der Gemeinschaft mit anderen Menschen erleben. In nullkommanichts wäre ihre Firma unangefochtener Marktführer! Frau Q. klopfte überschwenglich an die Tür ihres Chefs und wollte ihm geradeheraus von ihrer Entdeckung und den Fortschritten im Entwicklungsprozess berichten. «Frau Q., nicht jetzt bitte, es ist 10 Uhr. Sie wissen, was wir immer jeden Tag um 10 Uhr machen? Wir gehen in die Kaffeepause. » « Ich habe eine bahnbrechende Idee, die die grössten Probleme der Menschheit mit einem Schlag lösen könnte. » Da hatte Frau Q.’s Chef schon Frau N. in ihrem Büro aufgesucht, um mit ihr gemächlich in den Pausenraum zu robben. Frau Q.’s Ohren füllten sich mit einem entsetzlichen Dröhnen, sie nahm die Gespräche nur bruchstückhaft wahr: Hast du auch gerade so viel zu tun, ein Wahnsinn. Heute ist es aber wieder heiß im Büro, nicht wahr? Wo warst du in den Ferien? Auf Mallorca, so schön, ich fahre auch bald in die Ferien, wir planen dieses Mal nichts Besonderes, nein, nur ein paar Tage in Kolumbien. «Frau Q., Frau Q., träumen Sie etwa? Jetzt hätte ich Zeit für Sie. Präsentieren Sie mir doch ihre Idee. » Frau Q. demonstrierte den Prototyp, der in stundenlangen Nachtsessions mit Datenspezialist_innen, Gentechnolog_innen und Psycholog_innen entstanden war. An dieser und jener Stelle nickte ihr Chef zufrieden. « Ich muss Sie loben, Frau Q., es ist wirklich erstaunlich was sie in dieser kurzen Zeitspanne entwickelt haben. Nun sie kennen den weiteren Ablauf. Um herauszufinden, ob ihre Idee etwas taugt, müssen wir den Zukunftsautomaten befragen.»
Der Zukunftsautomat befand sich in einem kleinen Raum hinter dem Büro ihres Chefs, der nur mit einem Zugangscode begehbar war. Niemand wusste genau welche Personen zur Benützung des Codes berechtigt waren. Die Maschine füllte beinahe den gesamten Raum aus und hatte unzählige Knöpfe und Schaltflächen. Quadratische, flache Knöpfe in schwarz, grün und gelb, erhobene rote runde Knöpfe und allerlei Regler und Schalter in den unterschiedlichsten Grössen. An der rechten unteren Ecke gab es einen kleinen kaum wahrnehmbaren Schlitz. « Los, Frau Q., keine Scheu. Hier müssen sie nun ihre Entwürfe einspeisen. » Der Zukunftsautomat ruckelte, gluckste und schüttelte sich vor Anstrengung. « Gratuliere, Frau Q., ihre Idee wurde vom Zukunftsautomaten mit 8 von 10 möglichen Innovationspunkten bewertet. Aus internen Gründen die ihre Sicherheitsstufe in der Firma betreffen, können wir ihre Idee leider zum jetzigen Zeitpunkt nicht berücksichtigen, aber sie soll im Archiv 5/15/ 302b aufbewahrt werden. » Frau Q. wusste, dass jeglicher Protest verhallen würde puttygen , sie brauchte jemanden, der ihr Rückenwind gab, einen Entscheider, jemanden, der hier Einfluss ausüben könnte: Herr P., der Leiter der Entwicklungsabteilung! Sie lief so schnell sie konnte ins Erdgeschoss und kam ausser Atem vor Herrn P. zu stehen, der gerade in ein Gespräch mit einem Kollegen vertieft war, ein Spezialist im Bereich Haarentfernung. Er arbeitete an einem Produkt, das zu einem nachhaltigen Körperhaarausfall führen sollte, leider verloren die Testpersonen auch regelmässig ihr Kopfhaar. «Herr P., ich brauche dringend ihre Expertise! » « Aber Frau Q., nicht so hastig, so beruhigen Sie sich doch, ich habe Sie übrigens auch gesucht. Wissen Sie was ich Ihnen immer schon einmal sagen wollte? » « Herr P., die Zeit drängt, wir müssen handeln, bevor meine Idee im Archiv 5/15/302b verschwindet. » « Sie haben wirklich exquisite Hände, ich meine Sie haben unglaublich feine Hände, wie mit Seide überzogen und feingliedrige, lange Finger. » « Aber Herr P., ich… » « Natürlich können wir uns über ihr Anliegen unterhalten, haben Sie Samstagabend Zeit für ein Treffen? Mögen Sie Japanisch? Nein, sagen Sie nichts, Sie bevorzugen Koreanisch. » Frau Q. rann die Zeit durch ihre feindgliedrigen Finger und sie dachte fieberhaft darüber nach, wie sie verhindern könnte, dass man ihre Idee im Archiv begrub. Sie fragte Herrn P. nach dem Weg zu dem besagten Archiv und kam schließlich vor einer unscheinbaren Holztür, die kein Schloss trug, zu stehen. Sie stieß die Tür mit einem entschlossenen Ruck auf und fand sich in einem mit weißen Neonleuchten bestückten Gang wieder. Je länger sie jedoch den Gang entlanglief, desto näher kamen die kalkweissen Wände auf sie zu, bis der Gang immer schmaler und das grelle Licht von einem Halbdunkel abgelöst wurde. Wieder stand sie vor einer Holztür, die allerdings dieses Mal mit neun Schlössern gesichert war. Wie war sie bloss in diese Lage geraten?
(gelesen von Frau Q. am LitUp! Populismus am See)